abandon bytes - obsolet, aber nicht vergessen

Wieviel Programmcode benutzt man in seinem Leben, ohne sich der Nutzung selbst jemals bewusst zu sein? Wieviel Code davon bleibt im Gedächtnis? Prägt uns Programmcode, so wie die Generationen vor uns Literatur, Kunst, Musik oder bewegte Bilder? Ich behaupte: ja. Man sagt, das Internet vergesse nicht. Aber geht code mit der Zeit verloren? Ich befürchte auch hier: ja. Der Grundgedanke hat mich dazu bewogen, mir bewusst zu werden, welcher code auf welchem System mich vielleicht geprägt haben mag und was ich mir davon auch in Jahrzenten noch ganz bewusst in Erinnerung rufen möchte.

Amnesia – PC Demo von der Gruppe Renaissance

(veröffentlicht am 04.11.1992)

Wahrscheinlich kann man es sich heute nicht mehr vorstellen, wenn man es zu der Zeit nicht selbst erlebt hat. Ich hatte das Vergnügen, Amnesia erstmalig auf dem PC meines Vaters, einem i80486 DX2 (66MHz) zu sehen. Das muss 1993 oder 1994 gewesen sein. Es war ein Highscreen Desktop von Vobis im Colani Design. Er besaß zuerst 4MB, später 8MB RAM, eine 40MB Festplatte, eine Advanced Logic 256kb VGA-Grafikkarte und die legendäre Creative Labs Sound Blaster Pro. Anfang der 90er-Jahre gab es noch keinen Englisch-Unterricht in der Grundschule und so war mein Textverständnis für die Demoinhalte recht beschränkt. Ich erinnere mich aber noch heute, wie aufmerksam ich versuchte, die schnell scrollenden Texte zu lesen und mit einem Wörterbuch zu übersetzen. Dass auf unserem PC die scroller schnell liefen war keine Selbstverständlichkeit, denn die Demo setzte echte Maßstäbe in Grafik und Sound. Der Teil, den man dazumal „virtual reality“ nannte (d.h. animierte 3D-Welten, wie der Tempel) waren schier unglaublich. Der Code der ganzen Schönheit war in lediglich 1.317KB verpackt und passte auf eine 3,5“ Diskette. Dass die Demo ruckelfrei lief, war u.A. der Verwendung des „PMODE“ zu verdanken. Der PMODE ist der „protected mode“, welcher den direkt linear zugreifbaren RAM auf bis zu 16MB ermöglichte. Dafür durften aber keine der dazumal gängigen Speichermanager wie EMM386 oder himem.sys geladen sein. Das faszinierende daran war, dass amnesia.exe dafür eigenständig den PC neu booten und mit leerer config.sys und leerer autoexec.bat starten konnte. Nach erneutem reboot wurden wieder die ursprünglichen Startdateien benutzt. Dafür hat Renaissance übrigens einfach mal temporär die original Dateien in config.666 und autoexec.666 umbenannt. Es gab zu der Zeit viele Programme, für die eigene Systemumgebungen mit unterschiedlichen autoexec.bat und config.sys Inhalten erforderlich waren. Eines war z.B. Comanche – Maximum Overkill von Novalogic. Dafür hatten wir in unserer config.sys extra ein Bootmenü selbst eingebaut und die dazugehörigen Sprungmarken in der autoexec.bat…

[menu]
menuitem=EMM386,mit EMM386 booten
menuitem=ohne,ohne erweiterte Speicherverwaltung
menudefault=EMM386,5
MENUCOLOR=10,1
rem Standard ist mit EMM386 und 5s warten.

In den Credits der Demo (sie selbst nennen sie stets MegaDemo) schreibt Daredevil u.A., dass die Crew in der nächsten Zeit sehr beschäftigt sein wird, weil sie für Epic MegaGames arbeiten werden. Epic veröffentlichte dann 1993 z.B. Epic Pinball mit dem Android Pinballtable, mit dem ich auch sehr viel verbinde.

Tim Sweeney (Gründer von Epic MegaGames) war beeindruckt von einigen finnischen Entwicklern von 3D Demos (Renaissance) und schickte Mark Rein nach Finnland, um sie zu rekrutieren. Sie lehnten jedoch ab. Mark aber schaffte es, eine unfertige Version ihres Pinballspiels mit zurück zu bringen. Die Finnen waren nicht davon zu überzeugen, Epic MegaGames das Spiel fertig programmieren zu lassen. Tim zeigte das unvollendete Spiel James Schmalz in Kanada (er entwarf später die berühmte Unreal-Engine, 1998). James entwickelte Epic Pinball (mit sechs Flippertischen). Tim und Mark blieben in Kontakt mit James, um sicherzustellen, dass er auf dem richtigen Weg war. Die Grafiken wurden mit Deluxe Paint II erstellt und die Musik wurde mit dem Scream Tracker komponiert. Mark Rein ist übrigens ein Bekannter von John Romero, welcher ihn dazumal bat, Commander Keen IV während des Entwicklungsstadiums auszutesten. ...und auch Commander Keen IV möchte ich nicht missen, genauso wenig, wie unzählige Unreal1-Turniere im BNC 10Mbit/s LAN mit meinen Freunden auf meinem Cyrix 80586 P166+ (133 MHz) um das Jahr 1999. Es fühlt sich gut an, dass meine Faszination für Computer vom Werk einer Gruppe wie Renaissance entfacht worden ist. Es fühlt sich fast an, wie "zuhause", wenn ich im Nachhinein überlege, wie lange und eng verwoben, aber rein zufällig die Personen hinter und neben Renaissance mich mit ihren Codezeilen in meiner Jugend begleitet haben. Man kann sagen, code ist für mich mehr Heimat, als irgendein Ort auf diesem Planeten.

...now I may rest
in eternal sleep
my duty done,
my soul to keep.

📄 amnesia.doc       📄 file_id.diz       📄 ren-92.nfo       📄 amnesia.exe


Android Pinball (shareware) – Epic MegaGames (1993)

Den Android Flipper Tisch aus der Epic Pinball Serie hatte ich damals nur als shareware-Version. Es war um ca. 1996. Meine hardware war dazumal immer noch ein x486 DX2 oder später ein DX4 (100 MHz!) aber zu der Zeit schon in meinem Besitz und nicht mehr der Highscreen PC meines Vaters. Mir bot sich die Möglichkeit, die ausgemusterte hardware meines Papas oder die seines Arbeitgebers zu erben, was dazumal Gold wert war. So hatte ich die zweifelhafte Ehre, dass mein erster eigener PC ein Schneider EURO PC 8088 (9,54 MHz / 512KB RAM / ohne Festplatte, dafür aber schon mit 3,5“ Floppy / CGA = 4 Farben Grafikkarte + IBM PC Color Display 5153) wurde. Auf diesem, meinem allerersten PC lief damals ein MS-DOS 3.3 mit dem ich zunächst nicht mehr anstellen konnte, als mir selbst GW-Basic beizubringen (später bekannt als QBasic). Der Monitor (13“) war damals tiefer, als er breit oder hoch war. Aufgrund der Bauweise hielten viele meiner Freunde das Maschinchen zuerst für einen Amiga oder einen Commodore 64. Es dauerte allerdings nicht sehr lange, bis ich einen x286 (16 MHz) abstauben konnte, der sogar später eine 40 MB Festplatte bekam.
Die shareware-Version des Android-Pinball spielte ich damals bis zum Umfallen mit meiner Omi, die damals ca. 70 gewesen ist. Wir „flipperten“ sonntags regelmäßig unzählige Stunde an diesem Tisch. Allerdings spielten wir nicht gegeneinander, sondern immer zusammen als Team. Das sah dann so aus, dass meine Omi den linken und ich den rechten Hebel steuerte. Sie pflegte stets zu sagen „Ja, ja Schätzele, wir sind schon ein gutes Team.“ …und das waren wir wirklich, am Android Pinball und darüber hinaus. Meine Großmutter war für eine Frau ihrer Generation überdurchschnittlich technikbegeistert und verständnisvoll, wofür ich ihr immer dankbar sein werde. Vielleicht hat es etwas mit den Erinnerungen an Android Pinball zu tun, dass ich mir 13 Jahre später einen vollfunktionsfähigen Flippertisch von Bally, den Nitro Groundshaker (BJ 1980) in mein Wohnzimmer stellte...


VGA-Copy Pro – ein Diskcopytool von Thomas Mönkemeier, damaliger Informatikstudent aus Hude bei Oldenburg (1991)

Das, was für die damalige Amiga-Fraktion X-Copy war, war für jeden am PC VGA-Copy von Herrn Mönkemeier. Es war geradezu wie dafür gemacht, "Sicherheitskopien" von kopiergeschützen Disketten anzufertigen. Das tool benötigte zwingend eine VGA-Grafikkarte. Widererwarten wurde die Grafikkarte aber nicht nur benötigt, um das hübsche Foto von Thomas in 8-Bit Farbtiefe darzustellen, sondern weil das tool zum Kopieren den Speicherbereich der Grafikkarte und nicht des RAM adressierte. Zusätzlich bestach das Programm durch echte Sprachausgabe (.VOC) in Form von "reading", "writing" und einer furchtbar dreckigen Lache uvm. wenn man eine Soundkarte besaß.